Sehr geehrter Herr Frischmann,
ich danke Ihnen für Ihre Anfrage, die ich gerne beantworte.
Um Ihre Frage präzise zu beantworten, ist es zunächst wichtig, zwischen Mindesthaltezeiten und Verkehrshaltezeiten klar zu unterscheiden: Während die Verkehrshaltezeit die bei der Fahrplangestaltung einzuplanende Zeit für den Fahrgastwechsel beschreibt, entspricht die Mindesthaltezeit der für den Ein- und Ausstieg mindestens benötigten Zeit. Die Verkehrshaltezeit wird dabei entsprechend den tatsächlichen Erfordernissen bemessen. Auf beide Zeiten sind jeweils einige Sekunden Abfertigungszeit, für das Schließen der Türen und weitere Prozesse bis zur Ingangsetzung des Zuges, aufzuschlagen. Der angesprochene Begriff der "Einfädelungszeiten" kommt im einschlägigen Regelwerk nicht vor.
Die von Ihnen angesprochenen und nach drei Größenklassen gegliederten Näherungswerte der Verkehrshaltezeit gelten dabei ausdrücklich nur, soweit keine genaueren Angaben bekannt sind. Für Planung und Betrieb der S-Bahn Stuttgart liegen dagegen umfassende Erfahrungen aus nunmehr 33 Betriebsjahren vor. Entsprechend den Planungsgrundsätzen und tatsächlichen Fahrplänen wurde damit auch im Stresstest für S-Bahnen eine Verkehrshaltezeit von 30 Sekunden angesetzt.
Auf der mit planmäßig bis zu 24 Zügen pro Stunde und Richtung belasteten Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn liegen dabei besondere anspruchsvolle Betriebsverhältnisse vor. Im Gegensatz zu der ähnlich stark belasteten Stammstrecke der S-Bahn Rhein/Main, die über eine viergleisige Haltestelle am Hauptbahnhof Frankfurt am Main verfügt, steht an der zentralen Haltestelle in Stuttgart nur ein Gleis je Richtung zur Verfügung. Während in Frankfurt damit zwei S-Bahnen je Richtung unabhängig voneinander einfahren und über die reine Fahrgastwechselzeit hinaus halten und ausfahren können, sollen S-Bahnen am Hauptbahnhof Stuttgart möglichst schnell weiterfahren. Entsprechend liegt die planmäßige Haltezeit der S-Bahnen in Frankfurt Hauptbahnhof bei rund einer Minute, während sie in Stuttgart eine halbe Minute beträgt. Mit dieser besonders kurzen Verkehrshaltezeit wird dabei vermieden, dass ein im Grunde abfahrbereiter Zug noch nicht abfährt, weil seine Abfahrtszeit noch nicht erreicht ist. Es ist dabei kein Geheimnis, dass gerade im Berufsverkehr die planmäßige Haltezeit in der Praxis vielfach um einige Sekunden überschritten wird. Durch gezielt in den Fahrplan eingebrachte Reserven werden diese Haltezeitverlängerungen im Netz kompensiert.
Im Stresstest war der Nachweis zu erbringen, dass der neue Stuttgarter Bahnknoten insgesamt 30 Prozent mehr Fern- und Regionalzüge in der Spitzenstunde bei gleichzeitig abnehmenden Verspätungen abgewickelt werden können. Dieser Nachweis ist eindeutig gelungen. Während der Fern- und Regionalverkehr im Fokus der aufwendigen Analyse stand und präzise ausgewertet wurde, wurden S-Bahn- und Güterverkehr "nur" einbezogen, um das Verkehrsgeschehen auf den Außenästen realitätsgetreu abzubilden. Doch obwohl die S-Bahn-Betriebsqualität nicht Gegenstand der im Rahmen der Schlichtung einvernehmlich vereinbarten Stresstest-Anforderungen war, hat der beauftragte Gutachter den Verlauf der Verspätungen eingehend untersucht und für plausibel befunden (Stresstest-Schlussbericht, Steckbrief SI-05).
Unter dem Strich profitiert die S-Bahn von Stuttgart 21 in vielfältiger Weise. Während heute tagtäglich dutzende Regionalzüge zwischen Kornwestheim, Plochingen/Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof über S-Bahn-Gleise fahren müssen, um das heutige Zugangebot in dieser Form überhaupt anbieten zu können, dienen diese zur Hauptverkehrszeit vielfach von 12 S-Bahnen je Stunde befahrenen Gleise zukünftig ausschließlich der S-Bahn. Auf den Fildern, zwischen dem bestehenden Flughafenbahnhof und Rohr, werden dagegen zwischen vier S-Bahnen je Stunde im Taktverkehr 1,5 Fern- und Regionalzüge eingefädelt; in der Spitzenstunde wurden im Stresstest drei solche Züge Richtung Stuttgart unterstellt. Mit insgesamt höchstens sieben Zügen je Stunde und Richtung wird die Auslastung der vorhandenen Gleise verbessert, ohne die Strecke zu überlasten. Unter dem Strich wird sich die Betriebsqualität der S-Bahn damit spürbar verbessern.
Doch nicht nur die Betriebsqualität der S-Bahn profitiert vom neuen Bahnknoten. So wird mit dem neuen S-Bahnhof Mittnachtstraße das neue Rosensteinviertel attraktiv an den Öffentlichen Personennahverkehr angebunden und der Weg für zehntausende Pendler zwischen Bad Cannstatt und Feuerbach verkürzt. Und während der neue Halt an der Mittnachtstraße mit einer Fahrzeitverlängerung von ein bis zwei Minuten einhergeht, profitieren die zahlreichen Umsteiger am Hauptbahnhof von zukünftig deutlich kürzeren Wegen zu den Regional- und Fernzügen.
Ich hoffe, Ihre Frage zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich