Sehr geehrte Frau Voß,
gerne nehme ich Ihre kritischen Fragen zur Leistungsfähigkeit des neuen Stuttgarter Bahnknotens zum Anlass, mit einigen Legenden zum Potential der neuen Bahnanlagen aufzuräumen.
Die Deutsche Bahn hat im Rahmen des Stresstests den Nachweis erbracht, dass der neue Stuttgarter Hauptbahnhof zur Spitzenstunde über 30 Prozent mehr ankommende Züge verarbeiten kann als der heutige Kopfbahnhof. Dieses Ergebnis einer der aufwendigsten Bahnbetriebssimulationen, die in Deutsch- land bislang durchgeführt wurden, wurde dabei nicht einfach so kritiklos hingenommen. Einvernehmlich von beiden Seiten in der Schlichtung bestellt, begleiteten und begutachteten zunächst die Experten des Schweizer Ingen- ieurbüros SMA und Partner den gesamten Prozess und die Ergebnisse. Die Detailkritik der Fachleute wurde von der Deutschen Bahn aufgegriffen und abgearbeitet. Auch die Fachleute des Ministeriums für Verkehr und Infra- struktur hatten zahlreiche Fragen und Kritikpunkte, die von den Experten der Deutschen Bahn ebenfalls restlos abgearbeitet wurden. Damit ist der Stresstest aus Sicht der Projektpartner erfolgreich abgeschlossen.
Nun versuchen manche Kritiker immer wieder, das Ergebnis in Zweifel zu ziehen und behaupten, Stuttgart 21 sei ein groß angelegter Rückbau von Eisenbahn-Infrastruktur. Dabei spielen zwei Methoden eine wesentliche Rolle: Zum einen wird anhand historischer Dokumente versucht, Annahmen aus der Frühphase des Projekts über eine an dem damaligen Zugaufkommen orien- tierten Spitzenstundenbelastung mit der maximalen Leistungsfähigkeit der neuen Anlagen gleichzusetzen. Auf der anderen Seite wird behauptet, die bestehenden Anlagen könnten rund 50 Züge zur Spitzenstunde bewältigen und seien so weit leistungsfähiger als der neue Hauptbahnhof. Beide Ansätze laufen ins Leere.
Die von Ihnen angesprochenen rund 30 Züge fußen auf einem exemplarischen, fiktiven Betriebsprogramm, das vor rund 15 Jahren für den neuen Bahnknoten als Arbeitsgrundlage festgelegt wurde. Die angenommenen Züge orientierten sich am damaligen Verkehr und trafen keine Aussage über die Leistungsfähig- keit des neuen Bahnknotens, wie nicht zuletzt zahlreiche zeitliche Lücken zwischen den Zügen klar belegen. Auch der im September 2011 abgeschlos- sene Stresstest trifft ausdrücklich keine Aussage über die maximale Leistungs- fähigkeit der neuen Bahnanlagen, die deutlich über dem nachgewiesenen Wert von 49 Zugankünften pro Stunde liegen dürfte. Frühere, einfachere Analysen mit vereinfachten Annahmen sahen die Grenze des mit guter Betriebsqualität fahrbaren Zugangebots bei knapp 60 Zügen pro Stunde.
Die von Ihnen ebenfalls angesprochenen rund 50 Züge, die von einem Auftragsgutachter mit einem groben Näherungsverfahren für den heutigen Kopfbahnhof ermittelt wurden, ignorieren dabei weitgehend die Anforder- ungen und Bedingungen der Praxis. So wurden die Zulaufstrecken (einschließ- lich der S-Bahn-Gleise) in maximaler Dichte mit dem Ziel belegt, theoretisch möglichst viele Züge fahren lassen zu können. Reserven, wie sie im Stresstest - entsprechend den Vorgaben aus Theorie und Praxis - in großem Umfang eingeplant wurden, wären bei einer solchen Ausnutzung aller irgendwie denkbaren Fahrplantrassen nicht mehr vorhanden. Kleinste Verspätungen würden sich dabei aufschaukeln. Eine von vielen weiteren Fragen, die prak- tisch völlig unberücksichtigt bleibt, ist, ob die zulaufenden Strecken die Züge überhaupt so präzise zuführen könnten, um exakt zur richtigen Zeit am Haupt- bahnhof zu sein. Nicht zuletzt würden die S-Bahn-Gleise zwischen Bad Cann- statt und dem Hauptbahnhof noch viel stärker als heute durch Regionalzüge in Anspruch genommen.
Während im Stresstest fast jeder Parameter auf den Kopf gestellt, durchleuch- tet, diskutiert und dokumentiert wurde, machten sich alle bislang bekannten Kritiker nicht einmal die Mühe, auch nur die Grundzüge einschlägiger Metho- den der Bahnbetriebsanalyse zu nutzen. Dabei ist der neue Hauptbahnhof den bestehenden Anlagen in praktisch jeder Hinsicht klar überlegen: Mehr und schneller befahrbare Zulaufgleise münden in das schnell befahrbare Gleisfeld des Hauptbahnhofs, während sich ein- und ausfahrende Züge zukünftig nicht mehr im Weg stehen. Gleichzeitig entfällt der zeitaufwendige Fahrtrichtungs- wechsel. Der Durchgangsbetrieb ermöglicht in Verbindung mit dem neuen europäischen Zugsicherungssystem ETCS darüber hinaus, die kompakte und dennoch hochleistungsfähige Infrastruktur des neuen Stuttgarter Haupt- bahnhofs noch effizienter zu nutzen.
Unter dem Strich können Züge im neuen Bahnknoten auf mehr Gleisen ein- und ausfahren, viel schneller aufeinander folgen, stehen sich wesentlich seltener gegenseitig im Weg und benötigen am Bahnsteig weniger Zeit.
Ich hoffe, Ihre Fragen zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben. Mehr als 500 Seiten Hintergrundinformationen zum Stresstest stehen unter http://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/dialog/schlichtun... zum Download bereit.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich