Sehr geehrter Herr Brüggemann,
im Schlichterspruch von Dr. Heiner Geißler wird ausgeführt: „… Die Deutsche Bahn AG verpflichtet sich, einen Stresstest für den geplanten Bahnknoten Stuttgart 21 anhand einer Simulation durchzuführen. Sie muss dabei den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist. Dabei müssen anerkannte Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur Anwendung kommen …".
Im heutigen Kopfbahnhof kommen montags bis freitags zwischen 7:00 und 7:59 Uhr planmäßig 35 Züge an, 18 fahren ab. Saisonal können es etwas mehr oder weniger Züge sein. Zusätzlich sind zwei weitere oben ankommende Züge zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Gesamtzugzahl von 37 ankommenden Zügen als Grundlage für den geforderten 30-Prozent-Aufschlag (plus 11,1 Züge). Demzufolge sind 49 Zugankünfte die Messlatte, die der Hauptbahnhof zur Stunde 7 in guter Betriebsqualität erreichen muss.
Um die Leistungsfähigkeit eines Bahnknotens fundiert zu ermitteln, müssen alle wesentlichen Teilsysteme mit einbezogen werden. Für die Leistungsfähigkeit eines Bahnhofes sind dabei die Anzahl der Bahnhofsgleise nicht der allein ausschlagebende Aspekt. Entscheidend sind die Möglichkeiten wie die Züge diese Gleise anfahren können. Deshalb nützen viele Bahnsteiggleise nichts, wenn sich das umgebende Netz als Engstelle erweist. Als Engpass erweist sich vor allen Dingen das lange und nur mit 30 bis 60 km/h befahrbare Gleisvorfeld, das zwischen den wenigen Zulaufgleisen und den Bahnsteiggleisen vermittelt. Über nur vier Zulaufgleise (je zwei von und nach Bad Cannstatt und Feuerbach) und das enge Gleisvorfeld erreicht der Großteil des Fern- und Regionalverkehrs den 16-gleisigen Kopfbahnhof. Züge, die in den Kopfbahnhof einfahren, müssen diesen wieder in entgegengesetzter Richtung verlassen. Dadurch behindern sich die Züge bei der Ein- und Ausfahrt, es ergeben sich zahlreiche so genannte "Fahrstraßenausschlüsse", die die Flexibilität der Betriebsführung weiter einschränken. Dass die Leistungsfähigkeit des heutigen Kopfbahnhofs weitgehend erschöpft ist, zeigt auch die Tatsache, dass heute zahlreiche Züge zwischen Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof die eigentlich der S-Bahn vorbehaltenen Gleise mitbenutzen müssen, um überhaupt in den Kopfbahnhof zu kommen. Bei den oft im Fünf-Minuten-Takt verkehrenden S-Bahnen müssen beispielsweise in der morgendlichen Spitzenstunde zwischen die S-Bahnen noch 5 Regionalverkehrszüge eingeschoben werden. Dies zeigt, dass der Kopfbahnhof heute an der Grenze der praktischen Leistungsfähigkeit angekommen ist und wie schwierig sich aktuell die Abwicklung der heute 35 ankommenden und 18 abfahrenden Zügen zur Spitzenstunde gestaltet.
Mit Stuttgart 21 wird der gesamte Bahnknoten neu gestaltet und entscheidend verbessert. Zukünftig können Züge auf insgesamt 8 Streckengleisen mit 60 bis 100 km/h bis in den Bahnsteigbereich einfahren. Die Gleisvorfelder sind nicht nur schmaler, sondern auch kürzer und können mit größerer Geschwindigkeit befahren werden können. Dies sind wesentliche Gründe für die deutlich größere Leistungsfähigkeit des Durchgangsbahnhofs gegenüber dem heutigen Kopfbahnhof. Nicht zuletzt muss sich die S-Bahn im Zulauf auf den Hauptbahnhof zukünftig ihre Gleise nicht mehr mit Regionalzügen teilen, was für das S-Bahnsystem von Vorteil ist.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich - Sprecher des Bahnprojekts Stuttgart – Ulm