Liebe direktzu®-Nutzer,

32.000 Menschen haben abgestimmt, mehr als 650 Fragen wurden beantwortet – dies ist die Bilanz der Bürgerdialogplattform „Direktzu Stuttgart 21“, die im September 2010 online ging. Seitdem wurde von unseren Fachleuten detailliert Stellung bezogen zu vielen Themen rund um das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm. Alle unsere Antworten auf Ihre wichtigsten Fragen finden Sie hier auf dieser Plattform.

Seit 2010 hat sich das Projekt grundlegend verändert. Es geht nicht mehr um das „ob“, sondern um das „wie“. Nach Jahren der Planung und des politischen Diskurses treten die Umsetzung des Bahnprojektes und damit die Bauarbeiten immer mehr in den Vordergrund, was an vielen Stellen der Stadt und entlang der Autobahn nach Ulm zu sehen ist.

Für die zunehmenden Fragen rund ums Bauen haben wir ein „Informationszentrum“ eingerichtet, über welches sich insbesondere betroffene Bürgerinnen und Bürger rund um die Uhr an sieben Tagen pro Woche über das aktuelle Baugeschehen informieren können.

Wir freuen uns weiterhin über Ihr Interesse an unserem Projekt.

Beantwortet
Autor Thomas Krummrein am 29. Oktober 2010
21309 Leser · 27 Stimmen (-5 / +22)

Durchgangsbahnhof: Kapazität, Architektur, Barrierefreiheit

Verfahren zur Abschätzung der Kapazität eines Bahnhofs in Deutschland

Sehr geehrte Damen und Herren,

beim Schlichtungsverfahren werfen ja die Gegner von S21 den Befürwortern vor, dass kein funktionierender Fahrplan für S21 existiert, während die Befürworter auf momentan noch laufende Entwicklungen verweisen. Dieser Streit hat seinen Ursprung ja offenbar darin, dass in der Schweiz bei der Planung eines Bahnhofs zuerst ein fiktionaler Fahrplan erstellt wird. Dieses Verfahren leuchtet mir als Laie direkt ein: Ein Bahnhof funktioniert, wenn ein funktionierter Fahrplan für die geplante Infrastruktur aufgestellt werden kann und gleichzeitig genügend "Luft" für etwaige zukünftiuge Anpassungen beinhaltet. In Deutschland wird offenbar ein anderer Weg gegangen, um die Kapazität und Funktionalität der geplanten Infrastruktur im Voraus abschätzen und belegen zu können (Eine Abschätzung irgendeiner Art muss ja wohl im Laufe der Planungen durchgeführt werden). Leider hat Herr Kefer während der Schlichtung nie genauer erläutert, wie dieses Verfahren abläuft. Deshalb meine Frage: Wie läuft dieses Abschätzungsverfahren in Deutschland ab und gibt es öffentlich zugängliche Gutachten/Berechnungen dazu?

Mit freundlichen Grüßen und bestem Dank

Thomas Krummrein

+17

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Antwort
von Dr. Volker Kefer am 25. Januar 2011
Dr. Volker Kefer

Sehr geehrter Herr Krummrein,

Grundlage der Kapazitätsplanung ist das sogenannte Betriebsprogramm. Dieses wiederum basiert auf drei Ausgangsebenen.

Zunächst ist die Neu- und Ausbaustrecke mit ihren beiden Knotenpunkten Stuttgart und Ulm Bestandteil des „Europäischen Infrastrukturleitplanes“ des Internationalen Eisenbahnverbandes Union internationale des chemins de fer (UIC). Dieser stellt den Rahmen dar, in den sich auch die aktuellen Neu- und Ausbauplanungen in der Bundesrepublik Deutschland einfügen. Er definiert das Netz europäischer Magistralen, die mit einheitlichen Kriterien ausgestattet werden sollen. Der von der UIC erarbeitete Leitplan dient den nationalen Eisenbahnen als Planungsgrundlage.

Die zweite Ausgangsebene ist der Bundverkehrswegeplan. Dieser wird vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufgestellt und im Bundeskabinett beschlossen. Er enthält alle beabsichtigten Straßen-, Schienen- und Wasserstraßenprojekte. Bei der Aufstellung der Schienenprojekte werden die Länder und die Deutsche Bahn AG beteiligt. Die Projekte des Bundesverkehrswegeplans gehen ein in den Gesetzentwurf zur Änderung der Bedarfspläne. Auf dem Bundesverkehrswegeplan beruhen entsprechende Prognosehorizonte. Wenn die Projekte in den Bundesverkehrswegeplan bzw. in den Bedarfsplan aufgenommen werden, erfolgt dies aufgrund einer sehr frühen Planungsphase, der Grundlagenermittlung. Hierbei liegen noch keine Fahrpläne vor, wohl aber bereits relativ genaue Zugzahlen aus den zugrunde gelegten Verkehrsprognosen. Fahrplanstudien sind Inhalte der späteren Planungsphasen wie Vor- und Entwurfsplanung. Auf dieser Grundlage entstehen die Finanzierungsverträge zur Realisierung der Maßnahmen.

Die weitere Ausgangsebene sind Angebotskonzeptionen der Länder für den Regionalverkehr, für den sie die Ausgaben- und Aufgabenverantwortung tragen.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass bei uns in Deutschland die Infrastrukturplanung auf Grundlage von Prognosen und einem daraus resultierenden Bedarfs beruht.

Es ist richtig, dass bei unseren Nachbarn in der Schweiz die Infrastrukturplanung auf einem konkreten Fahrplan fußt. An dieser Stelle möchte ich anhand der Zahlen aus dem Jahre 2009 nochmals dafür plädieren, die Bahnsysteme Deutschlands und der Schweiz nicht miteinander zu vergleichen.

Einwohner: rd. 82 Millionen (Deutschland); rd. 8 Millionen (Schweiz)

Betriebslänge des Schienennetzes: rd. 34.000 km (Deutschland); rd. 3.000 km (Schweiz)

Bahnreisende pro Jahr: 1.908 Millionen (Deutschland); 328 Millionen (Schweiz)

Züge am Tag: rd. 31.600 (Deutschland); rd. 9000 (Schweiz)

Verkehr: polyzentrisch (Deutschland); monozentrisch (Schweiz)

In einem monozentrischen Land wie der Schweiz, in dem sich die Verkehre vorrangig auf die Metropole Zürich konzentrieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Verkehrsströme gravierend ändern viel geringer, als in unserem polyzentrischen Deutschland. Die gravierende Änderung von Verkehrsströmen ist darüber hinaus bei acht Millionen Einwohnern im Vergleich zu 82 Millionen Einwohnern eher unwahrscheinlich. Für einen konkreten Fahrplan im Voraus hat die Schweiz deshalb eine höhere Sicherheit. Denn wenn sich Verkehrsströme verlagern, haben Sie bei einer auf einen konkreten Fahrplan festgelegten Infrastruktur ein Problem.

Mit freundliche Grüßen

Dr. Volker Kefer - Vorstand Technik, Systemverbund, Dienstleistungen und Infrastruktur der DB