Sehr geehrter Herr Walliser,
vielen herzlichen Dank für Ihre Nachricht, die ich gerne beantworte.
Die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart ist wegen ihres großen Einzugsgebiets aus dem mittleren Neckarraum mit etwa 2,7 Millionen Einwohnern ein wichtiger Eisenbahnknoten im Netz der Deutschen Bahn AG. Die Bahn hat deshalb selbst ein großes eigenes Interesse, den Hauptbahnhof Stuttgart auch während der Bautätigkeiten des Bahnprojekts Stuttgart–Ulm durchweg anfahren zu können. Der Bahnhof zählt heute täglich um die 240.000 Reisende und Besucher.
Während der mehrjährigen Bauzeit für Stuttgart 21 werden sich Beeinträchtigungen für Bahnreisende von und nach Stuttgart aber nicht gänzlich ausschließen lassen. Die Bahn ist bestrebt, die Beeinträchtigungen im Regional- und Fernverkehr zu beschränken. Dabei stehen insbesondere die Interessen der Berufspendler im Vordergrund.
Die Eingriffe in den Betrieb für eine Modernisierung des Bestands wären unbestritten ungleich höher. Sie haben vollkommen Recht, dass bei einem Erhalt des Kopfbahnhofs weit mehr als nur einige Gleise und Weichen erneuert werden müssten. Die rund 100 Jahre alten, aufgeschütteten und tief gegründeten Anlagen zwischen dem Nordbahnhof, dem Bahnhof Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof müssten grundlegend saniert und erweitert werden.
Die letzte Kostenschätzung (von 2004) ging für den bloßen Substanzerhalt von Kosten in Höhe von 1,35 Milliarden Euro aus. Ausbauten zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, der Verkürzung von Reisezeiten oder auch der verbesserten Erschließung der Fildern wären darin in keinster Weise enthalten.
Die Dauer, aber auch die Kosten und die Nebenwirkungen einer Sanierung der bestehenden Anlagen hängen von Randbedingungen und Zielvorstellungen ab. So wäre eine bloße Erneuerung der bestehenden Anlagen bei einer Komplettsperrung des Hauptbahnhofs rein baulich binnen weniger Jahren denkbar. Angesichts der damit verbundenen katastrophalen Auswirkungen für den Nahverkehr im Herzen Baden-Württembergs scheidet diese Möglichkeit jedoch von vornherein aus.
Die bestehenden Anlagen müssten also grunderneuert werden, ohne den Zugverkehr spürbar einzuschränken. Da aber beispielsweise schon die bestehenden Zulaufstrecke (mit den Tunneln am Pragsattel und am Rosenstein) zur Spitzenstunde an den Grenzen der unter Praxisbedingungen erzielbaren Leistungsfähigkeit betrieben werden, müssten zunächst neue Zulaufgleise und Tunnel errichtet werden, um anschließend die bestehenden Anlagen sukzessive sperren und erneuern zu können. Im Kernbereich des Hauptbahnhofs wären solche bauzeitlichen Umfahrungen aufgrund der beengten Verhältnisse nicht immer möglich – hier müsste ein Teil der Arbeiten voraussichtlich auch nachts erfolgen.
Sollen dagegen – wie im Rahmen von Stuttgart 21 vorgesehen –, spürbar mehr Züge zur Hauptverkehrszeit angeboten werden, Regionalverkehrslinien durchgebunden und Reisezeiten verkürzt werden, wären massive Ausbauten notwendig: In viel größerem Maße müssten Gleise mit Brücken und Tunneln im Bahnhofsbereich über- und untereinander hinweg geführt werden, damit sich kreuz und quer ein- und ausfahrende Züge in ähnlich geringem Maße im Weg stünden, wie dies im geplanten Durchgangsbahnhof der Fall ist. Und um Ein- und Ausfahrgeschwindigkeiten auch nur annähernd auf das Niveau des schlanken Durchgangsbahnhofs anzuheben, wäre der Weichenbereich um mehrere hundert Meter zu verlängern, um längere, schneller befahrbare Weichen unterbringen zu können.
Für einen solchen Ausbau fehlt jedwede konkrete Planung, Finanzierung und parlamentarische Mehrheit in allen zuständigen Parlamenten und Gremien. Mehrere Jahrzehnte zur Entscheidungsfindung, Planung, Genehmigung und Bau wäre damit durchaus realistisch.
Zum Vergleich: Die Diskussion um das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm reicht bis die 1980er Jahre zurück, als die Abwägung im Korridor Stuttgart–Ulm begann.
Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort weitergeholfen zu haben und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich