Sehr geehrte Frau Single,
Herr Dr. Kefer hat mich gebeten, Ihre Fragen zur Barrierefreiheit des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs zu beantworten. Dazu waren eine Reihe von Rücksprachen erforderlich, die zwischenzeitlich liegen geblieben waren. Für die entstandene Wartezeit bitte ich Sie um Entschuldigung.
Die Deutsche Bahn ist nach der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung verpflichtet, eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit herzustellen.
Die Bahn hat dazu – zusammen mit den Verbänden der Behindertenselbsthilfe und dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen – ein Programm aufgestellt, um diesem wichtigen Anliegen umfassend Rechnung zu tragen.
Die Bahnsteige des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs sind in praktisch jeder Hinsicht deutlich komfortabler als jene der heutigen Station. Sie sind unter anderem rund anderthalb Meter breiter als heute und durch sechs statt zwei Zugängen erschlossen. Jeweils drei Aufzüge, fünf Treppen und sieben Rolltreppen verbinden die vier Bahnsteige mit den drei darüber verlaufenden Stegen. Darüber hinaus ist jeder Bahnsteig direkt mit der darunter liegenden Verteilerebene der S-Bahn verbunden. Kaum ein großer Bahnhof in Deutschland ist derart gut erschlossen. Die Umsteigewege zwischen Fern-,
Regional- und S-Bahn-Verkehr werden sich damit insgesamt in etwa halbieren.
Der von Ihnen angesprochene mittlere Steg B führt ebenerdig vom Europaviertel über die Bahnsteige hinweg zur Großen Schalterhalle und zur Königsstraße. Von diesem Steg führen breite Treppen und Rolltreppen in beide Richtungen auf jeden der vier Bahnsteige. Zwischen den beidseitigen Treppenanlagen wird darüber hinaus jeweils ein Aufzug eingebaut. Prognosen und Erfahrungswerte der Bahn lassen erwarten, dass der Großteil der ankommenden Reisenden vom Bahnsteig den Weg über diesen zentralen Steg nimmt. Die dortigen Treppen sind daher bewusst breit gestaltet worden: Von den 10 Metern Bahnsteigbreite sind sechs Meter für Treppen und Rolltreppen vorgesehen. Damit verbleiben vier Meter für den Teil der Fahrgäste, der sich (an den Treppen vorbei) unterhalb des Stegs B bewegt. Dort werden vergleichsweise wenige Reisende erwartet.
Die von Ihnen beschriebenen Stellen liegen jeweils zwischen den beiden auf den Bahnsteig herab führenden Treppenanlagen. Zwischen der äußeren Kante der Treppen und der Bahnsteigkante verbleiben die von Ihnen beschriebenen 2,04 m. Abzüglich des Gefahrenbereichs, der zwischen der Bahnsteigkante und dem Leitstreifen liegt und der bei Ein- und Durchfahrten nicht betreten werden soll, verbleiben damit 1,20 Meter. Entlang der acht Bahnsteigkanten gibt es jeweils zwei derartige Abschnitte, die jeweils rund neun Meter lang sind. Das entspricht weniger als einem Zwanzigstel der Bahnsteiglänge von rund 405 Metern.
Wenn sich bei Zughalten kurzzeitig besonders viele Reisende auf dem Bahnsteig bewegen, kann auch der Gefahrenbereich des Bahnsteigs genutzt werden. Damit steht die volle Breite von 2,04 Metern zur Verfügung. Somit können beispielsweise drei Reisende mit einfachem Gepäck oder auch zwei Rollstühlfahrer einander passieren. Wenn, wie bei Einfahrten, der 0,8 Meter breite Gefahrenbereich nicht betreten werden soll, stehen immer noch 1,2 Meter zur Verfügung. In entgegengesetzten Richtungen laufende Reisende müssen damit gegebenenfalls kurz warten und einander vorbeilassen, wie dies im Alltag im Straßenraum wie auch auf Bahnhöfen an kurzen Engstellen gang und gäbe ist.
Was aus Ihrer Sicht problematisch oder gar gefährlich erscheint, ist auf vielen Bahnhöfen in Deutschland gelebter Alltag. Auch im heutigen Stuttgarter Kopfbahnhof finden Sie, etwa auf halber Länge der Bahnsteige, ähnlich schmale Stellen. Im Gegensatz zum neuen Stuttgarter Hauptbahnhof, bei diese Abschnitte nur von einem kleinen Teil der Reisenden passiert werden, müssen hier sogar alle Reisenden vorbei, die aus den hinteren Wagen von langen Fernverkehrszügen aussteigen. Ein weiteres Beispiel, bei praktisch dieselben Maße realisiert wurden, ist der Berliner Hauptbahnhof, der seit 2006 in Betrieb ist und inzwischen sogar für seine besonders weit reichende Barrierefreiheit ausgezeichnet wurde.
Die Maße entsprechen im Übrigen voll und ganz den geltenden nationalen und europäischen Vorschriften. Auch die geforderte Mindestbreite von 1,5 Metern für Hublifte ist mehr als eingehalten. Regelwerke und Empfehlungen des Straßenverkehrs finden bei Bahnprojekten dagegen in der Regel keine Anwendung. Die Vorschriften für die Gestaltung von Bahnhöfen fußen auf mehr als 150 Jahre Erfahrung mit dem Bau und Betrieb von Stationen.
Die Deutsche Bahn arbeitet bei Stuttgart 21 eng mit dem Bündnis Barrierefreies Stuttgart 21 zusammen, um weitere Verbesserungen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und Orientierungsschwierigkeiten zu erreichen. Für konstruktive Hinweise sind wir jederzeit offen.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich