Sehr geehrter Herr Graf,
gerne nehme ich zu Ihrer anschaulichen Frage Stellung und bitte um Entschuldigung für die entstandene Wartezeit. Wir haben in der Zwischenzeit vielfach zu den Hintergründen der nochmaligen Überprüfung des Projekts und der darauf aufbauenden Erhöhung des Finanzierungsrahmens Stellung genommen.
Gerade auch weil versunkene Kosten bei rationalen Investitions- entscheidungen keine Rolle spielen dürfen, hat sich der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn nach gründlicher Prüfung neuer Erkenntnisse am 5. März 2013 entschieden, den Finanzierungsrahmen für das Projekt Stuttgart 21 frühzeitig anzupassen. Damit wird den in letzten Jahren unter schwierigen Umständen gewonnenen neuen Erkenntnissen ohne Umschweife Rechnung getragen. Die Realisierung von Stuttgart 21 ist somit lange vor Erreichen des bisherigen Finanzierungsrahmens (4,526 Mrd. Euro) und selbst beim Eintritt von Worst-Case-Szenarien sichergestellt. Die Bahn hat dabei kein Blatt vor den Mund genommen und umfassend die Hintergründe dieser Entscheidung dargestellt. Auf unserer Homepage finden Sie dazu zahlreiche Informationen.
Mit dem Finanzierungsvertrag von 2009 hat sich die Deutsche Bahn verpflichtet, Stuttgart 21 zügig umzusetzen. Eine Kündigung des Vertrages nach dem Baubeginn war und ist nicht möglich. Schon deshalb ist die Bahn - auch wenn sie das Projekte mit dem heutigen Wissen nicht mehr beginnen würde - zur Realisierung von Stuttgart 21 verpflichtet.
Ungeachtet dieser eindeutigen rechtlichen Verpflichtung wäre auch rein wirtschaftlich ein Ausstieg aus Stuttgart 21 nicht vernünftig gewesen. Ein Abbruch des Projekts hätte die Bahn schon Ende 2012 zwei Milliarden Euro gekostet. Mit jedem Tag und jedem weiteren Baufortschritt steigen die bereits verausgabten Kosten und damit auch deren Anteil an den Gesamtkosten. Diese Kosten sind bei Bauprojekten weitgehend "versunken", also durch Verkauf oder andere ökonomische Handlung nicht wiederzugewinnen. Bei laufenden Projekten heißt das nichts anderes, als dass das laufende Projekt gegenüber Alternativen, die praktisch bei null anfangen müssten, von Tag zu Tag günstiger wird.
In den Ausstiegskosten von zwei Milliarden Euro wäre der Aufwand für die dringend notwendige Sanierung der weitläufigen Bahnanlagen des Stuttgarter Hauptbahnhofs, aber auch längst überfällige Ausbaumaßnahmen sowie Fahrzeitverkürzungen im Übrigen noch gar nicht enthalten gewesen.Dafür wären weitere Investitionen in Milliardenhöhe erforderlich. Es ist nicht verwunderlich, dass Stuttgart 21 als die beste Variante aus allen sachlichen Vergleichen hervorging.
In Ihrem Beispiel haben Sie im Übrigen einige ganz wesentliche Umstände ausgeblendet. So sind Großprojekte immer mit einer Vielzahl von Chancen und Risiken verbunden, die es sorgfältig abzuwägen, in die Kalkulation mit einzubeziehen und bei Investitionsentscheidungen zu berücksichtigen gilt. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass bei Stuttgart 21 oft einseitig Risiken im öffentlichen Fokus stehen und von manchen der Eindruck erweckt wird, die Risiken von Stuttgart 21 seien unüberschaubar. Doch egal auf welchen Aspekt des Projekts der Fokus gerichtet wird - landauf, landab wurden in unserem Land längst ähnliche Projekte relativ geräuschlos bewältigt.
Im Gegensatz zu fast allen anderen großen deutschen Eisenbahnprojekten ist Stuttgart 21 auch ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn. Während beispielsweise der von Ihnen angesprochene Ausbau der Rhein- talbahn weitestgehend vom Bund finanziert wird, trägt die Deutsche Bahn bei Stuttgart 21 den größten Anteil an der Finanzierung. Diese unterschiedlichen Töpfe - die eben nicht einfach beliebig vermischt werden können - sind eines der zentralen Missverständnisse in Diskussionen um die Kosten und die Finanzierung von Stuttgart 21.
Ich möchte Sie einladen, sich anhand der auf unserer Homepage bereitgestellten Informationen selbst ein Bild zu machen und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich