Sehr geehrter Herr Birkenmaier,
vielen Dank für Ihre Überlegungen und Ihre Frage, die ich gerne beantworte.
Sie sprechen an, dass der Durchgangsbahnhof keine Vorteile für die Bahnkunden habe. Dem stehen eine Vielzahl von Fakten entgegen.
Abgesehen von den deutlich kürzeren Umsteigewegen durch die drei Verteilerstege, den deutlich verbesserten Zugangsmöglichkeiten zu den Bahnsteigen und einem direkten Zugang zur S-Bahn, hat der neue Hauptbahnhof auch eine deutlich höhere Leistungsfähigkeit und betriebliche Flexibilität, was im Stresstest bewiesen wurde.
In der Regel sind Durchgangsbahnhöfe bezogen auf ihre Bahnsteiggleiszahl deutlich leistungsfähiger als Kopfbahnhöfe. Das liegt daran, dass sie insgesamt schneller befahren werden können und wesentlich weniger Konflikte zwischen ein- und ausfahrenden Zügen aufweisen. Konkret auf die neue Infrastruktur in Stuttgart bezogen, hat der Stresstest nachgewiesen, dass 49 ankommende Zügen zur Spitzenstunde gut zu bewältigen sind. Es wäre dabei sachlich nicht zutreffend, zu behaupten, dies sei nur mit größten Mühen und Kunstgriffen gelungen und dass daraus unverhältnismäßig kurze Haltezeiten entstünden.
Der neue Hauptbahnhof mit seinen Zulaufstrecken weist vielmehr in beinahe jeder Hinsicht noch erhebliche Reserven auf, wie einige Aspekte zeigen:
1) Die durchschnittliche planmäßige Haltezeit der 49 zur Spitzenstunde im Hauptbahnhof ankommenden Züge liegt mit knapp sechs Minuten deutlich über den zum bloßen Fahrgastwechsel anzusetzenden zwei bis drei Minuten. 2) Durch die vereinzelte Doppelbelegungen von Bahnsteiggleisen können die Potentiale der neuen Infrastruktur zur Spitzenstunde besser genutzt werden. Im Stresstest-Fahrplan fuhr dabei bei lediglich vier von 49 Zügen ein Zug in der hinteren Gleisabschnitt ein, während im vorderen Gleisabschnitt ebenfalls ein Zug zum Fahrgastwechsel stand. Waren im ersten testierten Simulationslauf noch fünf solche Doppelbelegungen im engeren Sinn geplant, gelangt es durch geringfügigen Optimierungen für den letzten Simulationslauf, eine weitere Doppelbelegung aufzulösen. Durch weitere Optimierungen der Fahrplankonzeption in den kommenden Jahren könnte die Leistungsfähigkeit und Betriebsqualität der neuen Anlagen noch weiter gesteigert werden. 3) Die Möglichkeiten moderner Leit- und Sicherungstechnik (insbesondere ETCS) wurden im Stresstest so gut wie gar nicht berücksichtigt. Sollten in ferner Zukunft wesentlich mehr als 49 Züge im neuen Hauptbahnhof zur Spitzenstunde verkehren, wäre es damit beispielsweise möglich, Züge dichter aufeinander folgen zu lassen und einen nachfolgenden Zug ins Bahnsteiggleis einfahren zu lassen, noch bevor der vorausfahrende Zug dieses vollständig geräumt hat. 4) Auch die Zu- und Ablaufgleise können noch mit wesentlich mehr Zügen belegt werden. Sollte die Angebotsnachfrage weiter steigen, sind diese Strecken hierfür ausgelegt oder ohne Probleme erweiterbar, wie das Beispiel der Zulaufstrecke aus Zuffenhausen zeigt. Hier wird im Rahmen der Realisierung eine Option für ein 3. und 4. Gleis (die sog. P-Option) bereits berücksichtigt.
Eine rein auf Durchsatz optimierte Betriebsführung unter Vernachlässigung von Betriebsqualität und Verkehrsbedarf – wie sie unlängst auch in einem Auftragsgutachten zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit des bestehenden Kopfbahnhofs unterstellt wurden – würde etwa doppelt so viele Zugfahrten wie im Stresstest dargelegt ermöglichen.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass über das konkrete Zugangebot im Regionalverkehr in Baden-Württemberg die Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW) entscheidet.
Die neuen durchgebundenen Linien nutzen die Möglichkeiten des schnell befahrbaren und konfliktarmen neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs konsequent aus. Viele Reisende im baden-württembergischen Nahverkehr profitieren somit nicht nur von kürzeren Reisezeiten, sondern auch von weniger Umstiegen und viel mehr Direktverbindungen. Welche Regionalzüge auf welchen Linien tatsächlich ab 2020 verkehren werden, wird voraussichtlich in den Jahren 2018/19 festgelegt. Soweit gewünscht, ist es dabei auch mit der neuen Infrastruktur von Stuttgart 21 durchaus möglich, Züge wenden und auf demselben Weg zurückfahren zu lassen. Wie auch schon heute können im zukünftigen Hauptbahnhof Züge wenden (mit einem technisch bedingten Zeitaufwand von wenigstens vier Minuten) oder beispielsweise auch über den neuen Schienenring ohne Fahrtrichtungswechsel in dieselbe Richtung zurückfahren.
Ein solcher Ringverkehr wurde im Stresstest auf den Linien Göppingen–Stuttgart–Göppingen, Ulm–(Neubaustrecke)–Stuttgart–(Bestandsstrecke)–Ulm und Nürnberg–Stuttgart–Nürnberg auch vorgesehen.
Wie Sie sehen, hat der neue Stuttgarter Hauptbahnhof viele betriebliche Vorteile, die auch dem Kunden zugutekommen.
Ich hoffe, Ihre Frage zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Dietrich